Die Scaffolding-Methode: Bau dir deinen Lernprozess

Juni 4, 2021

  • Du willst selbstständig Englisch üben.
  • Du schaust Videos, liest Texte, kaufst Harry Potter und ein Grammatik-Buch.
  • Du verbringst Zeit auf Youtube und hast eine Konversations-CD.

Dann triffst du auf zwei Probleme:

  • Du arbeitest immer wieder die gleichen Grammatik-Themen oder Vokabellisten durch und langweilst dich. Die Texte im Lehrbuch sind zu einfach.
  • Gleichzeitig bist du frustriert, weil du Texte nicht verstehst, ohne sie durch DeepL zu jagen. Oder du ärgerst dich, weil du für Filme doch Untertitel brauchst. Und beim Small Talk mit Kollegen bekommst du immer noch einen roten Kopf und flüchtest aufs Klo.
Das Problem ist aber nicht dein Englisch. Dein Problem ist die Frage: Wie gehe ich den nächsten Schritt?
Wie überbrückst du Lücken in deinem Lernen? Scaffolding hilft.
Wie findest du Aufgaben, die dich fordern, aber nicht überfordern?

Heute zeige ich dir eine Methode, die dich dabei unterstützt, die Lücke zwischen dem, was du schon kannst und dem, was du noch nicht kannst, zu überwinden: "Scaffolding".

Und ich verspreche dir, dass du die Methode jetzt schon anwendest. Wer im Erwachsenenalter Sprachen lernt, hat einen riesigen Schatz an Fähigkeiten und Erfahrungen, die sich so selbstverständlich anfühlen, dass sie gar nicht mehr als Fähigkeiten wahrgenommen werden. Und dazu gehört auch das "Scaffolding".

  • Erkenne, wo du gerade stehst.
  • Definiere, wo du hin willst.
  • Geh den kleinsten, einfachsten nächsten Schritt.
  • Und hol dir die Hilfen, die du für genau diesen Schritt brauchst.

In diesem Artikel zeige ich dir, warum das so wichtig ist, warum es nicht so schwierig ist, wie es klingt, und wie das Ganze in der Praxis aussehen kann.

Scaffolding - how to become the architect of your learning process

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Was ist "Scaffolding"?

Scaffolding heißt: Gerüste bauen. 

Ganz einfach gesagt ist "Scaffolding" eine Form von Hilfestellung, mit der du einfacher die Lücke zwischen dem überbrückst, was du schon kannst und dem, was du noch nicht kannst.

Der Begriff kommt aus der Entwicklungspsychologie und Pädagogik, hat also mit der Frage zu tun, wie Kinder Sprache, soziale Kompetenzen und eigentlich alles andere auch lernen. Lev Vygotsky hat dazu im frühen 20. Jahrhundert das Konzept der Zone of Proximal Development entwickelt, und das funktioniert so:

Es gibt immer eine Lücke zwischen dem, was ein Kind schon kann und dem, was es noch nicht kann. Dazwischen ist ein Bereich, den das Kind noch nicht alleine schafft, aber mit Hilfe von Erwachsenen oder anderen Kindern meistern kann: Das ist die Zone of Proximal Development.

Lernen ist also eine soziale Angelegenheit

Wenn Kinder laufen lernen, geben wir ihnen am Anfang die Hand. Wenn Erwachsene gute Fragen stellen, entdecken Kinder oft selbst logische Zusammenhänge. Wer Kindern zeigt, wie eine Bibliothek funktioniert, ermöglicht ihnen selbstständige Leseabenteuer. 

Und: Lernen ist ein Prozess.

Natürlich fühlt sich das nicht immer gut an: Ich kann das noch nicht. Ich weiß nicht, wie ich von hier nach da komme. Ich stecke fest.

Andererseits ist dieser Moment auch voller Lernpotenzial. Du bist so weit. Es ist an der Zeit, weiter zu gehen. Auch, wenn das "wie" noch nicht so klar ist.

Man spricht dabei auch von "readiness" 

Wenn Eltern sagen, ihr Kind sei "definitely ready for school", meinen sie, dass das Kind sich auf die neuen Aufgaben in der Schule freut und sich im Kindergarten eher langweilt.

Erwachsene als Architekten ihres eigenen Lernprozesses

"Scaffolding" hört nie auf. Auch als Erwachsene holen wir uns Hilfestellungen. Wir gehen zu Coaches, Trainern und in Kurse. Dort bekommen wir unterschiedliche "Scaffolds":

  • Materialien, in denen wir etwas nachschlagen können;
  • Fragen, die uns helfen, ein Problem strukturiert oder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten;
  • Möglichkeiten zum Austausch mit anderen;
  • Checklisten, die komplexe Prozesse für uns auseinandernehmen;
  • Workflow-Diagramme, die uns viel Zeit ersparen, wenn wir eine neue Fähigkeit lernen.
Scaffolding hilft, den nächsten Schritt zu gehen.

Dabei nehmen solche Hilfen uns nie die eigentliche Arbeit ab. Sie unterstützen und organisieren nur den Lernprozess.

Du benutzt also ständig Scaffolding-Angebote im weitesten Sinne. Ob du jetzt die Bauanleitung für Ikea-Möbel liest, einen Podcast benutzt, um mit dem Joggen anzufangen, oder das Navi lautlos mitlaufen lässt, obwohl du die Strecke zu deinem neuen Arbeitsplatz schon fast auswendig kennst.

Erwachsene haben als Lernende einen riesigen Vorteil: Sie haben viel Erfahrung mit "Scaffolding". Sie haben von anderen gelernt, welche Hilfestellungen möglich sind. Sie haben gelernt, welche Ressourcen sie benutzen können. Sie haben anderen Menschen was erklärt, ihren Kindern das Sprechen beigebracht, Kollegen eingearbeitet. Sie haben also insgesamt schon ziemlich gute "meta-cognitive skills", also Wissen über ihr Wissen und Wissen darüber, wie sie lernen. Erwachsene haben sich schon zig Mal aus einer Zone of Proximal Development herausgeangelt, mit oder ohne Hilfe von anderen Personen.

Deshalb können wir auch "Scaffolding"-Techniken an uns selbst anwenden.

You are the architect of your learning experience.

Scaffolding-Schritte

  1. 1
    Finde heraus, wo du gerade stehst und was dir schon leicht fällt.
  2. 2
    Entscheide, was der nächste mögliche - und kleinstmögliche - Schritt auf dein Lernziel hin wäre und welche Übungen, Materialien oder Personen dir helfen können, um diesen Schritt zu gehen.
  3. 3
    Geh los.

Um dir Schritt 1 und 2 zu erleichtern, kannst du dir die Zone of Proximal Development so vorstellen:

Was kannst du schon? Was geht mit Hilfe? Was noch gar nicht? Gute Fragen helfen dir, die nächsten Schritte zu planen.

Ein Praxisbeispiel für die Scaffolding-Methode

Schritt 1: Wo stehe ich?

Ich kann einen kurzen Vortrag auf Englisch halten, wenn ich mich mit dem Thema gut auskenne und den Vortrag aufschreiben und vom Blatt ablesen kann.
Ich kann mich auf keinen Fall ohne Notizen unterhalten, auch wenn ich mich eigentlich mit dem Thema auskenne.

Je genauer du jetzt auseinandernimmst, was dieses "können" eigentlich heißt, desto einfach werden die nächsten Schritte. Was heißt das: Ich kann das?

  • Kommst du durch den Vortrag?
  • Versteht dein Publikum dich?
  • Gehts dir gut dabei?
  • Bist du entspannt und selbstbewusst?

Nehmen wir mal an, dass es dir beim Ablesen gut geht. Du bist selbstbewusst und bekommst gutes Feedback vom Publikum, weil du deine Inhalte gut rüberbringst. Freies Sprechen geht nicht, weil du vor lauter Nervosität gar keinen Satz rausbekommst.

Schritt 2: Was ist der kleinste nächste Schritt?

Gehen wir mal davon aus, dass du das mit dem "Vortrag vom Blatt ablesen" nicht mehr üben willst. Du kannst das.

Was wäre der nächst-einfachste Schritt danach? Welche Fähigkeit würde dir helfen, mit relativ wenig Zeitaufwand ein kleines bisschen vom Vorlesen wegzukommen?

Auswendig lernen ist keine Option. Das ist ja nur ablesen aus dem Gedächtnis. Und der Zeitaufwand!

Also vielleicht: Mit Notizen arbeiten anstatt mit einem Fließtext? Puh, ganz schön viel Arbeit, wenn du es nicht gewohnt bist, nur mit Notizen zu sprechen.

Welche Fähigkeiten brauchst du, um das zu machen?

Brauchst du Strategien, um mit Notizen zu sprechen? Müsstest du einige Vokabeln wiederholen, die du normalerweise abliest, jetzt aber freier verwenden willst? Brauchst du Ausdrücke, die dir aus der Patsche helfen, falls du stecken bleibst?

Ganz schön viel zu tun?

Fang so klein wie möglich an. Such dir zum Beispiel ein Thema, für das du die Vokabeln schon kannst und such dir eine Strategie, um mit Notizen zu sprechen. Machst du das auf Deutsch schon? Welche Strategien benutzt du da? Oder kennst du eine Person, die das schon gut macht? Könntest du fragen?

Du kannst auch andere kleine Schritte gehen:

  • Such dir ein leichteres Thema, über das du eigentlich sowieso ohne Notizen sprechen kannst.
  • Sprich nur für kurze Zeit. Nimm dir nur einen einzigen Aspekt vor und sprich darüber. Dabei hilft dir zum Beispiel meine "60-Sekunden-Übung für fast spontanes Sprechen".
  • Such dir ein richtig nettes Publikum. Oder sprich erst alleine.
Dieses häppchenweise Zerteilen ist eine wichtige Scaffolding-Strategie: Cognitive Structuring.

Dabei analysierst du eine Aufgabe genauer, findest heraus, welche einzelnen Fähigkeiten du dabei brauchst, welche Faktoren eine Rolle spielen und welche Einzelschritte vielleicht leichter sind als andere.

Je kleiner die Schritte sind, die du dir dabei vornimmst, desto effizienter wirst du vorankommen. Das Ziel ist, mit möglichst wenig Widerstand konkrete Fortschritte zu machen.

Stell dir das ruhig bildlich vor. Wer so schnell wie möglich in den ersten Stock will, versucht sich nicht spontan am Fassadenklettern, sondern nimmt die Treppe. Warum solltest du also von dir selbst verlangen, vom "ich lese Texte immer vor" spontan und aus dem Stand in freie Vorträge zu springen?

Schritt 3:

Was hilft dir dabei, den nächsten Schritt zu gehen?

Sobald du eine Vorstellung davon hast, wie dein nächster Schritt aussehen könnte, stell dir ruhig die Frage: Brauche ich Hilfe für diesen Schritt? Was unterstützt mich dabei? 

Liste mit möglichen Hilfen für das Scaffolding, zum Beispiel Workbooks, Coaches, Checklisten oder Bücher.

Du baust dir deinen eigenen Lernprozess.

Am Anfang dauert das vermutlich ein bisschen, und es kann sein, dass du Hilfe dabei brauchst, deine Lernprozesse so auseinanderzunehmen, dass sie sinnvoll strukturiert sind.

Aber je aktiver du daran beteiligt bist, dein Lernen zu organisieren, desto besser wirst du darin, "scaffolding"-Schritte einzubauen:

  • Du akzeptierst, wo du gerade stehst.
  • Du denkst in die Zukunft: Wo ist gerade viel Potential?
  • Du erkennst, wenn du dir zu große Schritte vorgenommen hast.
  • Du suchst aktiv nach eigenen Ressourcen und Fähigkeiten (wie viel davon kann ich schon?)
  • Du sammelst Erfahrung darin, sinnvolle Strategien und Ressourcen oder andere Hilfestellungen zu suchen.
  • Du findest das auch völlig okay, weil du weißt, dass solche Ressourcen kleine Gerüste sind, die dir auf dem Weg helfen.

Gerüste bauen und abreißen

Das Tolle am "Scaffolding" ist, dass du selbst merkst, wie du dich entwickelst. Wenn du dich nicht mehr daran erinnerst, wann du zuletzt auf dein "Writing English Emails Cheat Sheet" geschaut hast. Oder weil du geübt hast, mit Freunden über deine Dissertation zu sprechen und bei der nächsten Konferenz halbwegs entspannt auf die Frage "So, what do you do?" reagierst.

Wenn du ein Ziel erreicht hast, kannst du das nächste Ziel angehen.

Dann ist es Zeit für die nächste Aufgabe. You're ready.

Dieser Post als englische Audio-Version

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Scaffolding - how to become the architect of your learning process

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Fragen?

Wenn du Fragen hast, hinterlasse einfach einen Kommentar. Das ist auch ein Teil des Scaffolding: Zu wissen, wo du Hilfe bekommst, wenn du feststeckst.

Ressourcen:

Bliss, J., Askew, M., Macrae, S. (1996) 'Effective Teaching and Learning: Scaffolding Revisited', Oxford Review of Education, 22(1), pp. 37-61.
Brooks, V., Abbott, I., Huddleston, P. (2012) Preparing to Teach in Secondary Schools, 3rd edn., Berkshire: Open University Press.
Metcalfe, J. (2009) 'Metacognitive Judgments and Control of Study', Current Directions in Psychological Science, 18(3), pp. 159–163.
Roberts, R., Kreuz, R. (2017) Becoming Fluent: How Cognitive Science Can Help Adults Learn a Foreign Language, Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
Vygotsky, L., Cole, M., John-Steiner, V., Scribner, S.and Souberman, E. (eds.) (1978) Mind in Society: The Development of Higher Psychological Processes, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.

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