Wie erlebst du Erfolge?
Du und dein Englisch, abends auf dem Sofa. Dein Englisch so: „Und? Wie war dein Tag?" Und du so: „Das weißt du doch, du warst doch dabei. Du weißt doch genau, wie schlimm das heute war."
Dein Englisch überlegt kurz: „Aber eigentlich war doch alles okay. Wir haben doch richtig nettes Feedback bekommen auf unsere Präsentation, oder? Und die Nachfragen waren doch auch in Ordnung. Wir haben doch alles beantwortet."
Du rollst mit den Augen: „Na ja, whatever. Aber der John aus der IT, der hat total gelangweilt geguckt. Hast du das nicht gesehen?"
Und dein Englisch sagt zu dir: „Weißt du was? Wir sollten mal über deine Positivity Ratio sprechen."
Dein Gehirn übersieht Englisch-Erfolge
Diese Situation kennst du wahrscheinlich: Du machst eine Stunde lang etwas mit deinem Englisch - du bist in einem Meeting, führst ein Gespräch, präsentierst ein Thema - und eigentlich läuft alles ziemlich entspannt. Du kannst sagen, was du meinst, andere verstehen dich, alles fühlt sich normal an.
Aber wenn du hinterher gefragt wirst: „Und? Wie war das heute für dich?", dann sagst du sowas: „Naja, das war jetzt nicht so toll. Ich habe ja wieder Wörter nicht gewusst" oder „Ach, ich musste da so lange suchen."
Das liegt nicht daran, dass dein Englisch schlecht war. Das liegt an der Positivity Ratio.
Dieser Blogpost ist eine gekürzte Fassung der Podcast-Folge "How I met my English - der Englisch-Beziehungs-Podcast: Folge 19 - Positivity Ratio: Ein Englisch-Fehler macht 10 Erfolge unsichtbar."
Du möchtest lieber gleich reinhören? Dann klick hier (auf den Text klicken).
Was ist die Positivity Ratio?
Die Positivity Ratio beschreibt das Verhältnis zwischen positiven und negativen Ereignissen, die du brauchst, um dich insgesamt ausgeglichen zu fühlen. Sie ist interessant, weil sie uns daran erinnert, dass unser Gehirn sich einfach eher an negative Ereignisse als an positive erinnert - und sie schneller und intensiver abruft.
Überleg mal, wie viele E-Mails du so am Tag schreibst und bekommst. Wie viele davon sind neutral oder positiv, wie viele freundlich, welche Antworten bekommst du so? Das weißt du wahrscheinlich nicht so genau. Aber garantiert erinnerst du dich an diese eine Antwort, die nicht so freundlich war.
Genauso ist das, wenn du auf Social Media unterwegs bist. Da gibt es sicherlich ganz viele Kommentare, die du bekommst, ganz viele Daumen hoch und Herzchen und nette Dinge, die Menschen dir schreiben. Aber dieser eine fiese Kommentar - das ist der, an den du dich dann hinterher erinnerst.
Und genau das passiert eben auch sehr häufig, wenn Menschen mit ihrem Englisch zu tun haben.
Wie sich das bei deinem Englisch zeigt
Ich erlebe das eigentlich täglich: Menschen sprechen mit mir eine Stunde lang Englisch, und eigentlich läuft dieses ganze Gespräch ziemlich entspannt. Die Person kann alles sagen, was sie meint. Aber hinterher erinnert sich die Person ausschließlich daran, was ihr gefehlt hat.
Was nicht ankam: Wir haben uns gerade richtig lange auf Englisch unterhalten. Ja gut, da waren vielleicht zwei, drei, vier, fünf, vielleicht auch zehn Wörter, die umschrieben werden mussten - aber eben auch umschrieben werden konnten.
Das liegt daran, dass negative Ereignisse einen viel stärkeren Einfluss auf unser Denken haben als positive Erlebnisse. Du brauchst also mehrere positive Erfahrungen, um eine negative Erfahrung oder ein negatives Feedback auszugleichen. Wie dieses Verhältnis genau aussieht ist umstritten - da reichen die Annahmen von 3 oder 5 bis zu 8 positiven Erlebnissen, die ein negatives Erlebnis "ausgleichen".
Letztendlich finde ich es aber auch weniger interessant, ob sich das quantitativ so genau festlegen lässt.
Ich finde es viel interessanter, was das mit deiner Beziehung zu deinem Englisch anstellt.
Deine Englisch-Wahrnehmung ist verschwommen
Wenn du dich gerade nach einer längeren Zeit wieder mehr mit deinem Englisch auseinandersetzt oder mehr englische Herausforderungen erlebst, dann passieren wahrscheinlich zwei Dinge:
Erstens: Du erlebst viele Situationen, die sich ein bisschen riskant, ein bisschen schwierig, ein bisschen herausfordernd anfühlen. Dein Warnsystem ist vermutlich gerade im Vollzeit-Einsatz.
Zweitens: Deine Wahrnehmung dessen, was positiv und was negativ ist, hat nicht den gleichen Zoom-Faktor. Du zoomst bei positiven Sachen eher raus und sagst: „Ja, es war okay. Die Präsentation war okay." Bei negativen Sachen zoomst du wahrscheinlich eher rein und weißt sehr detailliert, was deiner Meinung nach nicht funktioniert hat.
Da wird dann jedes Stirnrunzeln, jede Nachfrage, jede fehlende Vokabel, jedes Zögern wahrgenommen.
Das ist nicht fair. Und es tut deinem Englisch nicht gut.
Aber: Wie kannst du deinen Blick für positive Erlebnisse schärfen?
Das Büroklammer-Experiment
Ich mache das mit Büroklammern. Auf meinem Schreibtisch stehen drei kleine Gewürzgläschen. Eins hat gar keine Beschriftung - da werfe ich immer eine Büroklammer rein, wenn ich gerade irgendwas mache, was neu ist oder was sich für mich ein bisschen riskant anfühlt.
Diese Büroklammer hat einen einfachen Zweck: Sie soll mich daran erinnern, dass ich immer wieder Dinge neue Dinge mache und immer mal wieder Energie in Sachen investiere, die keinen klaren, vorhersehbaren Ausgang haben. „You're doing the thing." Hier ist der Beweis dafür.
Dann habe ich noch zwei andere Gläschen, auf die habe ich Gesichter gemalt. Auf dem einen ist ein lächelndes Gesicht, auf dem anderen ist ein trauriges Gesicht. Immer, wenn ich positives Feedback in irgendeiner Form bekomme, kommt eine Büroklammer in das Gläschen mit dem lächelnden Smiley.
Das kann ein netter Instagram-Kommentar sein, das kann eine freundliche Rückmeldung von Kunden sein. Es kann auch einfach sein, dass ich irgendwas Neues ausprobiert habe und hinterher habe ich mich gut gefühlt. Joggen gehen, obwohl es regnet. Oder so.
Und natürlich ist am Ende einer ziemlich normalen Woche das Gläschen mit dem lächelnden Smiley viel voller als das andere.
Warum das Wahrnehmungstraining ist
Das Schöne daran ist, dass ich eigentlich nur Daten sammeln will. Alles, was mir auffällt, bekommt eine Büroklammer. Auch der doofe Blick von John aus der IT bekommt eine (aber nur eine!). Es geht nur darum, positive und negative Erlebnisse zu sammeln und mich daran zu erinnern: „Hey, das sieht ganz gut aus mit der Positivity Ratio."
Warum ich Büroklammern benutze
Für mich funktioniert das mit den Büroklammern super, weil ich die immer auf dem Tisch habe. Das macht es einfach: Ich muss nicht drüber nachdenken, wo ich mir ein Erlebnis aufschreiben soll, oder wie viel das jetzt wert war.
Ich weiß, dass manche Menschen ähnliche Übungen mit einem Dankbarkeitstagebuch machen, oder indem sie positive Erlebnisse auf einen kleinen Zettel schreiben und in eine Dose werfen.
Allerdings finde ich die Büroklammern so charmant, weil sie extrem wenig Aufwand benötigen, und von mir auch nicht fordern, dass ich qualitativ bewerte und in Worte fasse, was gerade passiert ist.
Diese Übung ist darauf ausgelegt, überhaupt wahrzunehmen, wenn irgendwas positiv war.
Übe dich in Großzügigkeit
Außerdem trainiert dich diese Übung darin, richtig großzügig mit dir selbst und deinem Englisch zu sein.
Dein Englisch bekommt positive kleine Booster, und zwar immer wenn irgendwas okay war.
Das ist besonders dann eine schöne Übung, wenn du zu den Menschen gehörst, für die es tendenziell eigentlich nur entweder "perfekt" oder "scheiße" gibt. Wenn du dich schwer damit tust, Dinge als positiv wahrzunehmen, wenn sie nicht hundertprozentig, super genial perfekt waren, kannst du dich mit Büroklammern in Großzügigkeit üben.
Was du dir mitnehmen kannst:
Es ist schon ein guter Anfang, überhaupt zu wissen, dass es diese Ratio überhaupt gibt - dass wir negative Dinge stärker wahrnehmen und uns wahrscheinlich auch besser daran erinnern als an alles, was positiv oder neutral war.
Das bedeutet, dass du dich vielleicht schon innerlich ein bisschen stoppen kannst, wenn du abends mit deinem Englisch auf dem Sofa sitzt und ihm Vorwürfe machst. Denn der Tag war ja wahrscheinlich nicht komplett daneben.
Erinnere dich daran: „Moment, meine Wahrnehmung hat da so ein bisschen Schieflage " und frag dich selbst: „Was war denn gut?"
Klar, natürlich sollst du immer mal wieder auch genauer hinschauen und analysieren, was gut gelaufen ist und was für dich gut funktioniert hat und warum und was du ändern willst.
Aber in dieser Übung geht es darum, den Automatismus auszuschalten, alles, was neutral oder gut war, erstmal gedanklich zu entwerten oder zu ignorieren.
Es geht darum, positive Erlebnisse wahrzunehmen und sichtbar zu machen.