Du, dein Englisch und Vokabel-Apps

April 29, 2025

Willst du dein Englisch beherrschen oder benutzen?

Du und dein Englisch beschließt, etwas Neues zu lernen. Eine Vokabel-App ist da doch genau das Richtige, oder? Du braust durch die Lektionen, die Fortschrittsbalken füllen sich, Punkte klingeln, Levels werden freigeschaltet. Du denkst: „Wow, Englisch – das läuft ja richtig gut mit uns!“

Aber dann sitzt du in einem Meeting. Du brauchst dein Englisch – und es schweigt. Entsetzt drehst du dich zu ihm um: "Was ist denn los, wir haben doch ganz viel geübt!" Und dein Englisch jammert: "Ja, schon, aber ich habe einfach keine Wörter."

Was ist da passiert?

So eine Erfahrung ist viel üblicher als du vielleicht glaubst - und nicht, weil dein Englisch dich einfach im Stich lässt.

In meinem letzten Blogpost habe ich über die Frage geschrieben: Welche Vokabeln sollst du lernen? Dabei bin ich auf das Thema Listen, Vokabel-Sets und Apps eingegangen und habe die Behauptung aufgestellt, dass solche Materialien nicht ideal sind wenn du an einer langfristigen erwachsenen Beziehung mit deinem Englisch interessiert bist.

Heute möchte ich nochmal auf das Thema zurückkommen - aber wir schlagen den Bogen größer. Denn das Ganze hat mit der viel allgemeineren Frage zu tun: "Wie gehe ich mit Unsicherheit um?" Dafür gehe ich auf das psychologische Prinzip der "compensatory control" ein, über das ich gerade wieder im Buch "Tiny Experiments" von Anne-Laure Le Cunff gelesen habe. Dieses Prinzip beschreibt, wie Menschen mit komplexen Situationen umgehen. Und genau das hat sehr viel mit deinem Englisch zu tun.

Was deine Englischerfahrung mit Unsicherheit und Kontrolle zu tun hat

Englisch zu lernen ist keine "leichte" Aufgabe. Sprache ist lebendig, unübersichtlich, und manchmal widersprüchlich. Diese Erfahrung machen die meisten Menschen, die als Erwachsene in der freien Wildbahn ihr Englisch verbessern wollen: Da gibt es viele Wörter, Dialekte, Regeln, Ausnahmen, Fallen - und von der Rechtschreibung wollen wir gar nicht reden.

Wenn Englisch in seiner gesamten Komplexität und Vielfalt in dein Leben tritt, wird schnell klar, was lebendige Sprache eben ist: bunt, faszinierend, komplex, chaotisch, manchmal nervig. Wie eine echte Beziehung.

Da ist es kein Wunder, dass Lernende sich überfordert und unsicher fühlen und nach irgendeiner Lösung suchen, die ihnen einen klaren Pfad im Sprachdickicht aufzeigt. Strukturierte Angebote sind dann eine attraktive Option: Apps, Vokabellisten, Kurse - wir suchen alles, was uns ein System verspricht, das messbar, weniger chaotisch und letztendlich kontrollierbar wirkt.

Compensatory Control: Unser Umgang mit Unsicherheit

Menschen mögen keine Unsicherheit. Um das zu erleben, musst du gar kein Englisch lernen. Wir haben einfach gerne Kontrolle über unser Leben und unsere Umgebung. Und mit Kontrolle meine ich: Wir wollen uns sicher fühlen, und dafür ist es gut, wenn wir halbwegs verstehen, wie "das Leben" so läuft.

Wenn wir dann aber mit komplexen, unsicheren Situationen und Herausforderungen konfrontiert werden, reagieren wir erstmal nicht so positiv. Stichwort: Compensatory control. Wir kompensieren, indem wir dem Auslöser der Unsicherheit aus dem Weg gehen, oder wir versuchen, die Situation so zu kontrollieren, dass sie sich eben wieder "sicher" anfühlt. Nicht, weil das immer die beste Lösung ist – sondern weil wir das Gefühl brauchen, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Was es für dein Englisch bedeutet, wenn du Komplexität beherrschen willst

Wir mögen keine Unsicherheit, und Komplexität kostet uns Energie. Englischlernen - oder Fremdsprachenlernen generell - ist also erstmal kein Idealzustand. Wo fängst du an? Diese Aufgabe kann sich fordernd, überfordernd, oder sogar furchteinflößend anfühlen. Tja, und was machst du dann?

Vermeidung und Prokrastination

Deine erste Option: Ich vermeide das Ganze. Vielleicht sagst du dir, dass Englisch jetzt doch keine Priorität hat. Du hast keine Zeit. Du findest nicht die richtigen Materialien, die richtige Lehrerin, den richtigen Kurs, die passenden Formate oder das richtige Programm. Du verschiebst "Englisch" auf später. Also: Du prokrastinierst.

Oder du vermeidest Englisch sogar komplett. Wenn Menschen Englisch sprechen, schweigst du. Wenn dich jemand auf eine Party mit internationalen Freunden einlädt, sagst du ab. Das tolle Jobangebot kommt für dich nicht in Frage, weil "Englisch" in den Anforderungen steht. Da bewirbst du dich erst gar nicht.

Du siehst schon: Vermeidungstaktiken haben im schlimmsten Fall echte persönliche oder professionelle Konsequenzen für dich.

Kontrolle über die Sprache

Wenn du Unsicherheit vermeiden willst, versuchst du vielleicht auch, Englisch zu "kontrollieren". Du suchst dann Lösungen, die scheinbar die Komplexität der Sprache ausschalten oder zumindest so stark zu reduzieren, dass sich "Englisch" für dich machbar anfühlt.

An sich ist das gar keine schlechte Strategie, aber sie wird dann zum Problem, wenn du dir dadurch vorgaukelst, dass Englisch ab jetzt einfach, vorhersehbar, garantiert erfolgreich wird. Kurse und Apps machen das sehr gut, und gerade für Anfänger ist das genau richtig: Englisch ist dann so neu und überwältigend, dass du erstmal einen Einstieg finden musst.

Nur irgendwann wirst du merken: Ich mache Fortschritte im Kurs oder in der App, aber meine Punkte, Streaks, Lektionen und Levels lassen sich einfach nicht auf mein echtes Leben übertragen. Ich wende die Vokabeln aus den Listen nicht an. Ich kann mit der App sprechen, aber nicht vor echten Menschen. Ich habe nie Fehler in meinen Grammatik-Übungen, aber ich bekomme keinen geraden Satz heraus.

Auf der einen Seite arbeitest du unglaublich viel und siehst ja auch in deinen Materialien, dass du "Fortschritte" machst. Auf der anderen Seite erlebst du diese Fortschritte nicht im echten Leben.

Und das ist frustrierend. Und entmutigend. Und im schlimmsten Fall denkst du: Ich bekomme das einfach nicht hin.

Das, was du tust, gibt dir also kein Vertrauen in deine Fähigkeit, Englisch zu benutzen. Im Gegenteil: Nach und nach wird dein Vertrauen in deine eigene Lernfähigkeit untergraben.

Dabei liegt es eher daran, dass das, was du beim Üben machst, nicht zu dem passt, was du im echten Leben mit deinem Englisch anfangen willst.

Kontrolle funktioniert nicht - was kannst du statt dessen tun?

Ein wichtiger erster Schritt ist, die Komplexität von Englisch anzuerkennen und anzunehmen. Okay, Englisch ist "messy". Es gibt Regeln, klar, aber Sprache ist nun mal ein lebendiges Konstrukt, das sich auch immer wieder verändert. Das heißt, du wirst immer Dinge hören, die nicht in deine bisherigen Modelle passen, die irgendwie unvorhersehbar oder verwirrend sind. Und das ist nichts Schlimmes. Das ist Sprache.

Language is messy. Wie alle Beziehungen. Auch Beziehungen mit Menschen sind ja komplex. Menschen machen Dinge, die uns freuen und erstaunen, aber manchmal überraschen oder ärgern sie uns auch. Deshalb geben wir aber nicht die Beziehung auf oder zweifeln unsere eigene Beziehungsfähigkeit an. Wir wissen: Menschliche Beziehungen sind immer auch mit ein bisschen Unsicherheit verbunden und das gehört halt einfach dazu.

Genau: Es ist ein "gravity problem". Du kannst es nicht ändern. Du kannst dich drüber ärgern - oder eben nicht.

Und genau das ist für viele Menschen der wichtigste Schritt: Anzuerkennen, dass es nicht ihre "Schuld" ist, wenn sie Englisch verwirrend finden. Das Ganze ist eine komplexe Aufgabe. Fertig.

Wer hinnehmen kann, dass Englisch sich nicht gerne kontrollieren lässt, aktiviert ganz neue Gedankengänge:

Ach, das ist komplex. Okay, komplex kann ich. Das habe ich auch in anderen Bereichen meines Lebens. Ich habe schon öfter komplexe Aufgaben gelöst.

Wenn ich mit Englisch zu tun habe, kann ich Ressourcen nutzen, die ich auch in anderen Bereichen nutze, um komplexe Aufgaben zu erledigen.

Und plötzlich stehst du Englisch erwachsen und selbständig gegenüber, mit allen Ressourcen, die du eben hast. Das macht es viel leichter, die "eigentliche" Arbeit zu erledigen.

Englisch erleben - was hilft?

Relevanz erzeugen

Ich habe das in der letzten Podcast-Folge und im letzten Blogpost noch ausführlicher behandelt, aber im Prinzip geht es darum, die Inhalte, die du auf Englisch behandelst, relevant für dich zu machen. Und dazu gehört, dass du deinem inneren Kompass folgst: „Was will ich denn eigentlich mit meinem Englisch machen?"

Je relevanter die Materialien sind, desto schneller kannst du sie anwenden. Und je schneller du sie anwendest, desto weniger oft musst du sie wiederholen.

Aufgaben herunterbrechen

Je mehr Relevanz die Materialien für dich haben, desto einfacher wird es auch, das große Thema "Englisch" in kleinere Aufgaben herunterzubrechen. Du beginnst eine Aufgabe, stellst fest, wo du hängen bleibst, und kannst dann analysieren, was du fürs nächste Mal brauchst. Was konntest du noch nicht?

Ein Beispiel: Du willst besser darin werden, Fachtexte auf Englisch zu schreiben:

Du könntest jetzt auf Vorrat Vokabeln und Grammatik pauken, um dann vielleicht hoffentlich irgendwann in der Zukunft mal einen "echten" Text zu schreiben.

Oder du schreibst einen echten Text, um überhaupt herauszufinden, was du schon kannst, was dir fehlt, und wo du unsicher bist.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie kompetent und selbständig Menschen ihre eigenen Texte analysieren - wenn sie den Text erstmal geschrieben haben. "Meine Sätze klingen sehr Deutsch." "Okay, woran könnte das liegen?" "Ich glaube, ich benutze zu viele Passiv-Konstruktionen."

Das ist eine ganz andere Geschichte als: "Ich kann keine Texte auf Englisch schreiben."

Denn das mit den Passiv-Konstruktionen kannst du lernen. Ziemlich schnell sogar.

Und wenn du gar nicht weißt, wo du loslegen sollst, dann holst du dir halt Hilfe. Das machst du ja auch, wenn du andere komplexe Dinge lernen willst, für die dir alleine erstmal der Überblick fehlt.

Sichere Räume schaffen

Wenn du erstmal erkannt hast, dass Fremdsprachenlernen komplex ist, erwartest du tendenziell eher nicht mehr von dir, jetzt sofort ohne Sicherheitsnetz, Vorbereitung oder Unterstützung von "geht gar nicht" auf "mache ich einfach so" zu schwenken.

Du suchst dir sichere Räume.

Auch das ist ein Mittel, um die Unsicherheit zu reduzieren, die du mit Englisch verbindest. Denn wenn du in einem sicheren Rahmen lernen und üben kannst, wirst du mutiger im Umgang mit Komplexität. Du darfst Dinge ausprobieren, Fehler machen, Strategien lernen und reflektieren. Was funktioniert für dich, was nicht? Was machst du, wenn du ins Stolpern gerätst? Wie reagierst du auf unerwartete Fragen?

Eine App ist der ultimative sichere Rahmen - das kann natürlich gut sein. Aber: Du merkst sehr schnell, dass das nicht reicht. Was passiert, wenn du mal mit echten Menschen sprechen willst?

Ein Kurs kann ein prima sicherer Rahmen sein - solange die Inhalte zu deinen Zielen passen. Denn sonst wirst du schnell vor der Frage stehen: Ja, aber was passiert, wenn ich mal aus dem vorgegebenen Inhalt ausbrechen und über Dinge sprechen will, die nicht im Kursbuch stehen?

Coaching bietet natürlich einen ganz besonderen sicheren Rahmen - du wählst die Themen, die für dich relevant sind, du bekommst Hilfe dabei, deine Herausforderungen zu analysieren, und du kannst entsprechende Inhalte und Strategien üben. Coaching alleine kann bei dir allerdings das Gefühl auslösen, dass du "zwar hier in diesem Rahmen" sprechen kannst, aber nicht "da draußen in der Welt". Deshalb ist Coaching besonders dann nützlich, wenn du gleichzeitig auch die Gelegenheit hast, deine neuen Fähigkeiten in echten Situationen auszuprobieren.

Übungsgruppen können dafür ein guter erster Schritt sein. Vielleicht hast du Menschen in deinem Umfeld, die ähnliche Herausforderungen oder Ziele wie du haben - dein Team zum Beispiel, Menschen aus dem gleichen Fachbereich, oder Menschen mit ähnlichen Interessen. Dann hast du eine natürliche Gruppe, in der du "real life light" ausprobieren kannst.

Solche Räume geben dir Sicherheit, aber sie ignorieren die Komplexität der Sprache nicht. Im Gegenteil: Wer in einem ehrlichen, wohlwollenden, kollaborativen Rahmen lernt und übt, wird eher auch erleben, dass Experimente mit der Unsicherheit Spaß machen können.

Fazit: Erlebe dein Englisch, anstatt es zu beherrschen

Wenn Englisch dich manchmal frustriert, dann ist das nicht überraschend: Sprache ist komplex und "messy" - und Menschen mögen es nicht so gerne, wenn sie vor unklaren Aufgaben stehen.

Der Unsicherheit aus dem Weg zu gehen oder sie zu ignorieren bringt dir nur kurzfristig Erleichterung. Irgendwann willst du es mit echter Sprache zu tun haben. Wenn du mit Materialien arbeitest, die dir ein klares Gefühl von Kontrolle und Fortschritt vermitteln, deine Erfahrung in der echten Welt aber irgendwie nicht dazu passt: Vielleicht ist es Zeit, ein bisschen Kontrolle abzugeben und dich der Unsicherheit zu stellen.

Wenn du akzeptierst, dass Sprache genauso komplex ist wie eine menschliche Beziehung, wird es dir leichter fallen, deine "Beziehungsfähigkeit" unter Beweis zu stellen: Du findest Materialien, die für dein Leben relevant sind, und du nutzt Ressourcen, die du auch sonst in deinem Leben nutzt, um komplexe Aufgaben zu lösen. Und genauso wie in anderen Bereichen wirst du dir leichter Hilfe holen können, wenn du nicht erwartest, dass das Ganze doch "einfach" sein sollte.

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